Sonntag, 24. August 2025

Exerzitium objektiv-hermeneutischer Photoanalyse

 Außerdem ein kleines Exerzitium objektiv-hermeneutischer Photoanalyse:

Loer, Thomas (2025): Kunst der Beratung. Skizze zu einem Photo. In: Supervision 43(2) (Vier Wände, große Wirkung – Die Rolle der Räume in der Beratung; Heftverantwortliche: Ahuti Alice Müller, Mirjam Weigand, Ullrich Beumer & Andreas Nolten): 16 f.

Objektive Hermeneutik als Methode der Kunstsoziologie

Neu erschienen ist ein Handbuchartikel zur Kunstsoziologie:

Loer, Thomas (2025): Objektive Hermeneutik als Methode der Kunstsoziologie. In: Bosch, Aida; Hieber Lutz; Steuerwald, Christian (eds.): Handbuch Soziologie der Künste. Wiesbaden: Springer VS (https://doi.org/10.1007/978-3-658-34083-4_95-1)
 
Zusammenfassung: Nach einer knappen Darstellung allgemeiner Aspekte von Konstitutionstheorie, Methodologie, Methode und Kunstlehre der Objektiven Hermeutik wird der zugrunde liegende Begriff der Kunst entfaltet. Eine exemplarische Analyse eines Gemäldes veranschaulicht dann materialhaltig die Objektive Hermeneutik als Methode der Kunstsoziologie.


Donnerstag, 29. August 2024

Objektive Hermeneutik in Wissenschaft und Praxis | Stand der Dinge

In Kürze fertiggestellt werden folgende Bände:

 
Scheid, Claudia (vsl. 2024): Kinderzeichnungen analysieren [Arbeitstitel]
 
In Bearbeitung sind folgende Bände:

Ritter, Bertram (vsl. 2025): Klinische Soziologie und Fallverstehen im Praxisfeld der Hilfen zur Erziehung. Eine anwendungsorientierte Einführung in die Objektive Hermeneutik anhand von Analysen verschiedener Datentypen in Fallkontexten (mit Beiträgen von Thomas Loer)

Köck-Maier, Nicole; Loer, Thomas: (vsl. 2026): Literatur analysieren I, Epik. Eine Einführung am Beispiel von Chimamanda Ngozi Adichies „Half of a Yellow Sun“ und einer Kurzgeschichte von Albert Chinụalụmọgụ Achebe (unter Mitarbeit und mit Beiträgen von Thomas Loer)

Donnerstag, 27. Juli 2023

Handbuch Objektive Hermeneutik erschienen

Zu Beginn dieses Jahres erschien das Handbuch Objektive Hermeneutik:

Franzmann, Andreas; Rychner, Marianne; Scheid, Claudia; Twardella, Johannes (ed.) (2023): Handbuch Objektive Hermeneutik. Wiesbaden: Barbara Budrich

zum Inhalt und zu Auszügen aus der Einleitung

s. auch:

zur Analyse von Photographien 

zur Analyse von Gemälden 

zur Analyse von Videos

Anmerkungen zum Handbuch Objektive Hermeneutik

Einige Aspekte des Handbuchs Objektive Hermeneutik*) erfordern eine Ergänzung bzw. Korrektur:

(1) Zum verdienstvollen Abdruck von Oevermann: Fallrekonstruktion und Strukturgeneralisierung (S. 47-82)

(a) Hier wurden – ohne editorische Erwähnung – die Unterstreichungen des Originals getilgt; insofern ist zu empfehlen, vergleichend auf das zwar lediglich als 'graues Papier' erschienene, aber vielzitierte Original zurückzugreifen (was allerdings leider durch die fehlende Seitenkonkordanz erschwert wird).

(b) Zu den nicht gefundenen Literaturhinweisen:

(i) Hommage (S. 81, Fn. 10):

Oevermann, Ulrich (1976): Piagets Bedeutung für die Soziologie. In: Hommage à Jean Piaget zum achtzigsten Geburtstag, Stuttgart: Klett, 36-41

(ii) Versozialwissenschaftlichte (S. 81, Fn. 9):

Es dürfte sich um eine Vorfassung des folgenden Textes handeln (wie wir wissen, arbeitete Oevermann seine Texte über Jahre hinweg aus und um, bis sie irgendwo öffentlich wurden):

Oevermann, Ulrich (1988): Eine exemplarische Fallrekonstruktion zum Typus versozialwissenschaftlichter Identitätsformation. In: Brose, Hanns Georg; Hildenbrand, Bruno (ed.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen: Leske + Budrich, 243-286

(iii) Hermeneutik als (S. 81, Fn. 9): Es dürfte sich um eine Vorfassung der folgenden Texte handeln:

Oevermann, Ulrich (1990): Strukturale Hermeneutik als methodologische Grundlage für „Theorien der Subjektivität". Oldenburg (Vortrag zum Symposium „Verstehen und Methoden", in Oldenburg, am 6[.]9[.] 1990; Tpskr.; 78 S. + 12 S. (Zum Begriff der Lebenspraxis in der objektiven Hermeneutik) + 9 S. (Die Verfahren der Sequenzanalyse und die Fallrekonstruktion: Über den inneren Zusammenhang von objektiver Hermeneutik und Theorien der Individuierung und der Geschichte))

bzw.:

Oevermann, Ulrich (1992): Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodologische Grundlage für die Analyse von Subjektivität. Zugleich eine Kritik der Tiefenhermeneutik. o. O. [Frankfurt/M.] (Tpskr., Oktober 1992; 48 S.)

bzw.:

Oevermann, Ulrich (1993): Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodologische Grundlage für die Analyse von Subjektivität. Zugleich eine Kritik der Tiefenhermeneutik. In: Jung, Thomas; Müller-Doohm, Stefan (ed.), „Wirklichkeit“ im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 106-189

(2) Zur Einleitung (und auch zum Vorwort):

(a) Der Abschnitt über das Principle of Charity (S. 39) ist irritierend, da dort der Sache nach über die methodische Sparsamkeitsregel geredet wird. Das Principle of Charity betrifft aber gerade das alltagspraktische Verstehen und steht insofern dem Wörtlichkeitsprinzip entgegen.**)

(b) Die Frage des sogenannten Genderns wird behandelt als sei es eine Frage der Meinung, wie es etwa im Vorwort auf S. 12 erscheint, und gäbe keine Argumente. Dies ist für eine Methode wie die Objektive Hermeneutik, für die die regelkonstituierte objektive Bedeutung zentral ist, unangemessen. So werden etwa Rolle und Person zur „forschende[n] Person“ (S. 409) amalgamiert, wo im Feld der Soziologie zwischen beiden Begriffen doch klar zu unterscheiden ist; offenkundig falsch ist es, wenn dort, wo nun wirklich „Geschlechtsidentität […] zu den begrifflichen Merkmalen [zählt], auf die es ankommt“, um „potentielle Referenzentitäten begrifflich [zu] charakterisieren“ (Zifonun), nämlich beim Frauentausch, dieses Merkmal unterschlagen wird („Austausch von Menschen zwischen an sich fremden sozialen Gruppen“ – Einleitung S. 25).

(c) Das Verhältnis von Methode und Kunstlehre bleibt unklar: s. etwa „Methoden- und Kunstlehre“ (S. 15), weiteres: S. 15, 37, „methodische[..] Kunstlehre“ (S 41).***)

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*) Franzmann, Andreas; Rychner, Marianne; Scheid, Claudia; Twardella, Johannes (ed.) (2023): Handbuch Objektive Hermeneutik. Wiesbaden: Barbara Budrich.

**) s. den Exkurs dazu in: Loer, Thomas (2021): Interviews analysieren. Eine Einführung am Beispiel von Forschungsgesprächen mit Hundehaltern. Wiesbaden: Springer VS [Objektive Hermeneutik in Wissenschaft und Praxis], S. 118

***) Vgl. aber etwa den Abschn. „Kontistutionstheorie und Methodologie, Methode und Kunstlehre“ in Loer 2021, S. 24-26

Mittwoch, 8. Februar 2023

Objektive Hermeneutik in Wissenschaft und Praxis | der zweite Band erschienen

Der zweite Band der Buchreihe "Objektive Hermeneutik in Wissenschaft und Praxis" ist erschienen: Loer, Thomas (2022): Photographien analysieren. Eine Einführung am Beispiel von Philip-Lorca diCorcias ‚Streetwork‘, einem politischen Selfie und einer Photographie aus Auschwitz. Wiesbaden: Springer VS (s. hier und hier) || Der Band führt am Beispiel von drei vom Typus, vom Entstehungs- und vom Verwendungszusammenhang her unterschiedlichen Photos aus verschiedenen Forschungszusammenhängen detailliert in die objektiv-hermeneutische Analyse von Photographien ein. Dabei werden auch Konstitutionstheorie und Methodologie so dargestellt, dass die Arbeit mit der Forschungsmethode Objektive Hermeneutik und ihr Erlernen fundiert und fasslich möglich sind. Dem für die Methode zentralen Prinzip der Sachangemessenheit folgt der Band, indem bei der Auswertung der Photographien materiale Fragestellungen bearbeitet werden: (A) die Rekonstruktion neutraler Reziprozität (ähnlich der zivilen Unaufmerksamkeit gemäß Erving Goffman), (B) die Rekonstruktion der politischen Kommunikation via Selfies als eines eigenen Typus der Kommunikation und (C) die Rekonstruktion einer Praxis, von der Georges Didi-Huberman mit Recht sagt, dass sie alle Anthropologie übersteigt. Die Darlegung setzt bei der Planung der Forschung an, behandelt die Fragen der Fallauswahl, der Selektion des Datentypus und der Erhebung, die spezifischen Fragen der Analyse von Photographien und die besondere Form der Ergebnisdarstellung. Eine Liste publizierter objektiv-hermeneutischer Photographieanalysen und ein Glossar zu Begriffen der Objektiven Hermeneutik ergänzen die Darstellung. Mit Exkursen… …zu Begriff und Terminus der Interpretation …zur Frage von Sichtbarkeit, Notation und Beschreibung …zum Begriff der strukturellen Reziprozität …zu den Begriffen der Normalität und der Normalisierung …zum Phänomen der Bestattung || Weitere Bände zu verschiedenen Datentypen und Gegenständen werden folgen; in Arbeit befindet sich: Fischer, Ute; Loer Thomas (vsl. 2024): Deutungsmuster und Habitusformationen rekonstruieren. Eine Einführung am Beispiel der Haltungen zu den Corona-Maßnahmen und: Scheid, Claudia et al. (vsl. 2024): Kinderzeichnungen analysieren.

Mittwoch, 14. Dezember 2022

Lesarten (Terminologie) (neuer Vorschlag)

Im November 2018 habe ich an dieser Stelle einen Vorschlag zur terminologischen Klärung bzgl. der Unterscheidung von Lesarten gemacht, den ich aufgrund der bei einer Gedichtanalyse*) aufgetretenen Schwierigkeit damit, nunmehr in geänderter Form erneuern möchte:

In der Objektiven Hermeneutik werden Lesarten u. a. danach unterschieden, in welchem Verhältnis sie zur zu analysierenden Ausdrucksgestalt stehen. Die erste (I) Unterscheidung ist diejenige danach, ob sie mit der Ausdrucksgestalt (a) kompatibel sind oder (b) nicht. Dabei können die Lesarten, die nicht mit der Ausdrucksgestalt kompatibel sind, – wenn sie im Zuge der Interpretation überhaupt auftauchen – relativ rasch ausgeschieden werden.

ad Ib

Nehmen wir an, beim zu analysierenden Protokoll handelte es sich um eine Videoaufzeichnung, die ein fahrendes Auto zeigt, in dem ein Mann zu erkennen ist, der die Hände am Steuer hat.**) Mit der Ausdrucksgestalt nicht kompatibel ist etwa die Lesart, es handele sich in Wirklichkeit um einen Mann in der Badewanne; diese kann einfach ausgeschlossen werden. Dass solche Lesarten überhaupt auftauchen, kann an einer ideosynkratischen Assoziation liegen, die als ideosynkratische und als bloße, in individuell besonderer Erfahrung fundierte Assoziation objektive Geltung nicht beanspruchen kann.

Die zweite (II) Unterscheidung ist diejenige danach, ob die Lesart von der Ausdrucksgestalt (a) "erzwungen" ist oder (b) nicht. Dabei sind diejenigen Lesarten, die mit der Ausdrucksgestalt kompatibel, aber nicht von ihr "erzwungen" sind, für die Analyse problematisch.

Ulrich Oevermann schreibt hierzu:

"Schwieriger ist demgegenüber der Umgang mit Lesarten, die zwar mit einer zu analysierenden Ausdrucksgestalt kompatibel sind, aber von dieser nicht im Sinne einer lückenlosen Ableitung von deren immanenten Markierungen erzwungen sind. Diese Lesarten, für die gilt, dass sie der 'Fall sein können, aber nicht sein müssen', sind im Sinne des schon genannten Wörtlichkeitsprinzips unbedingt zu vermeiden, denn sie 'vermüllen' die Analyse so wie degenerative Zusatzhypothesen eine Erklärung nur trüben. Diese Unterscheidung von zwar kompatiblen, aber nicht zwingenden Deutungen von solchen, die sich aus den Eigenschaften der Ausdrucksgestalt zwingend ableiten lassen, so dass für sie entweder gilt, dass sie nicht der Fall sein können, oder noch besser: der Fall sein müssen, ist außerordentlich wichtig und schwieriger zu realisieren als das Urteil über die Kompatibilität einer Lesart mit der gegebenen Ausdrucksgestalt. Die Beachtung dieser Unterscheidung ist für die Erklärungskraft der Analysen aber entscheidend und ermöglicht erst eine strikte Falsifikation."***)

ad Ia/IIb

Nehmen wir unser obiges Beispiel, so wäre die Lesart: "Im Auto sitzt ein Affe im Fußraum, der das Auto eigentlich steuert", mit der Ausdrucksgestalt kompatibel (Ia), aber nicht von ihr "erzwungen" (IIb). Nun ist die Rede von "erzwungenen" bzw. "nicht erzwungenen" Lesarten m.E. irreführend, legt sie doch nahe, man könne gar nicht umhin, erstere zu bilden. Die von Oevermann verwendete Terminologie hängt zusammen mit der im zitierten Text auch zu findenden Rede von "zwingenden Deutungen". Dass eine Deutung zwingend ist, ist aber eine Feststellung, die nach dem Vorbringen dieser Deutung am Text geprüft wird, und sagt nichts darüber aus, woher diese Deutung stammt – ob die Ausdrucksgestalt sie etwa "erzwungen" hat.

Stattdessen sollten wir, so mein Vorschlag, Lesarten, die sich als "zwingende Deutungen" erweisen, als bezüglich der Ausdrucksgestalt unabweisbar bezeichnen; so können wir die irreführende Rede vermeiden.

ad Ia/IIa

Die bezüglich des o.g. Protokolls unabweisbare Lesart ist diejenige: "Der Mann steuert das Auto."

Die Unabweisbarkeit ist von der Ausdrucksgestalt her zu denken: Bezüglich der Ausdrucksgestalt ist eine Lesart unabweisbar, die "sich aus den Eigenschaften der Ausdrucksgestalt zwingend ableiten" lässt. Bloße Assoziationen sind hingegen der Ausdrucksgestalt unterlegt, und nicht unabweisbar. – Das teilt der Terminus "unabweisbar" mit dem Terminus "erzwungen".

Aber: Was bezüglich des Textes unabweisbar ist, muss vom Interpreten erst entdeckt, aufgedeckt werden. – Das unterscheidet den Terminus "unabweisbar" vom Terminus "erzwungen".

Insofern schlage ich vor, für die Unterscheidung von Lesarten neben der Rede davon, ob sie mit der Ausdrucksgestalt kompatibel sind, die Formulierung zu verwenden, ob sie bezüglich der Ausdrucksgestalt unabweisbar sind.

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*) Es handelte sich um die Analyse der notorischen Zeile von Gertrude Stein: "Rose is a rose is a rose is a rose" – vgl. Loer, Thomas (2023): Objektive Hermeneutik als Methode der Kunstsoziologie. In: Bosch, Aida; Hieber, Lutz; Steuerwald, Christian (ed.) (2023): Handbuch Soziologie der Künste. Wiesbaden Springer VS

**) Ich benutze ein von Ulrich Oevermann in Lehrveranstaltungen oft verwendetes Beispiel.

***) Oevermann, Ulrich (2013): Objektive Hermeneutik als Methodologie der Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt. In: Langer, Phil C.; Kühner, Angela; Schweder, Panja (ed.), Reflexive Wissensproduktion. Anregungen zu einem kritischen Methodenverständnis in qualitativer Forschung, Wiesbaden: Springer Fachmedien, 69-98; hier 96 f.