Mittwoch, 14. Dezember 2022

Lesarten (Terminologie) (neuer Vorschlag)

Im November 2018 habe ich an dieser Stelle einen Vorschlag zur terminologischen Klärung bzgl. der Unterscheidung von Lesarten gemacht, den ich aufgrund der bei einer Gedichtanalyse*) aufgetretenen Schwierigkeit damit, nunmehr in geänderter Form erneuern möchte:

In der Objektiven Hermeneutik werden Lesarten u. a. danach unterschieden, in welchem Verhältnis sie zur zu analysierenden Ausdrucksgestalt stehen. Die erste (I) Unterscheidung ist diejenige danach, ob sie mit der Ausdrucksgestalt (a) kompatibel sind oder (b) nicht. Dabei können die Lesarten, die nicht mit der Ausdrucksgestalt kompatibel sind, – wenn sie im Zuge der Interpretation überhaupt auftauchen – relativ rasch ausgeschieden werden.

ad Ib

Nehmen wir an, beim zu analysierenden Protokoll handelte es sich um eine Videoaufzeichnung, die ein fahrendes Auto zeigt, in dem ein Mann zu erkennen ist, der die Hände am Steuer hat.**) Mit der Ausdrucksgestalt nicht kompatibel ist etwa die Lesart, es handele sich in Wirklichkeit um einen Mann in der Badewanne; diese kann einfach ausgeschlossen werden. Dass solche Lesarten überhaupt auftauchen, kann an einer ideosynkratischen Assoziation liegen, die als ideosynkratische und als bloße, in individuell besonderer Erfahrung fundierte Assoziation objektive Geltung nicht beanspruchen kann.

Die zweite (II) Unterscheidung ist diejenige danach, ob die Lesart von der Ausdrucksgestalt (a) "erzwungen" ist oder (b) nicht. Dabei sind diejenigen Lesarten, die mit der Ausdrucksgestalt kompatibel, aber nicht von ihr "erzwungen" sind, für die Analyse problematisch.

Ulrich Oevermann schreibt hierzu:

"Schwieriger ist demgegenüber der Umgang mit Lesarten, die zwar mit einer zu analysierenden Ausdrucksgestalt kompatibel sind, aber von dieser nicht im Sinne einer lückenlosen Ableitung von deren immanenten Markierungen erzwungen sind. Diese Lesarten, für die gilt, dass sie der 'Fall sein können, aber nicht sein müssen', sind im Sinne des schon genannten Wörtlichkeitsprinzips unbedingt zu vermeiden, denn sie 'vermüllen' die Analyse so wie degenerative Zusatzhypothesen eine Erklärung nur trüben. Diese Unterscheidung von zwar kompatiblen, aber nicht zwingenden Deutungen von solchen, die sich aus den Eigenschaften der Ausdrucksgestalt zwingend ableiten lassen, so dass für sie entweder gilt, dass sie nicht der Fall sein können, oder noch besser: der Fall sein müssen, ist außerordentlich wichtig und schwieriger zu realisieren als das Urteil über die Kompatibilität einer Lesart mit der gegebenen Ausdrucksgestalt. Die Beachtung dieser Unterscheidung ist für die Erklärungskraft der Analysen aber entscheidend und ermöglicht erst eine strikte Falsifikation."***)

ad Ia/IIb

Nehmen wir unser obiges Beispiel, so wäre die Lesart: "Im Auto sitzt ein Affe im Fußraum, der das Auto eigentlich steuert", mit der Ausdrucksgestalt kompatibel (Ia), aber nicht von ihr "erzwungen" (IIb). Nun ist die Rede von "erzwungenen" bzw. "nicht erzwungenen" Lesarten m.E. irreführend, legt sie doch nahe, man könne gar nicht umhin, erstere zu bilden. Die von Oevermann verwendete Terminologie hängt zusammen mit der im zitierten Text auch zu findenden Rede von "zwingenden Deutungen". Dass eine Deutung zwingend ist, ist aber eine Feststellung, die nach dem Vorbringen dieser Deutung am Text geprüft wird, und sagt nichts darüber aus, woher diese Deutung stammt – ob die Ausdrucksgestalt sie etwa "erzwungen" hat.

Stattdessen sollten wir, so mein Vorschlag, Lesarten, die sich als "zwingende Deutungen" erweisen, als bezüglich der Ausdrucksgestalt unabweisbar bezeichnen; so können wir die irreführende Rede vermeiden.

ad Ia/IIa

Die bezüglich des o.g. Protokolls unabweisbare Lesart ist diejenige: "Der Mann steuert das Auto."

Die Unabweisbarkeit ist von der Ausdrucksgestalt her zu denken: Bezüglich der Ausdrucksgestalt ist eine Lesart unabweisbar, die "sich aus den Eigenschaften der Ausdrucksgestalt zwingend ableiten" lässt. Bloße Assoziationen sind hingegen der Ausdrucksgestalt unterlegt, und nicht unabweisbar. – Das teilt der Terminus "unabweisbar" mit dem Terminus "erzwungen".

Aber: Was bezüglich des Textes unabweisbar ist, muss vom Interpreten erst entdeckt, aufgedeckt werden. – Das unterscheidet den Terminus "unabweisbar" vom Terminus "erzwungen".

Insofern schlage ich vor, für die Unterscheidung von Lesarten neben der Rede davon, ob sie mit der Ausdrucksgestalt kompatibel sind, die Formulierung zu verwenden, ob sie bezüglich der Ausdrucksgestalt unabweisbar sind.

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*) Es handelte sich um die Analyse der notorischen Zeile von Gertrude Stein: "Rose is a rose is a rose is a rose" – vgl. Loer, Thomas (2023): Objektive Hermeneutik als Methode der Kunstsoziologie. In: Bosch, Aida; Hieber, Lutz; Steuerwald, Christian (ed.) (2023): Handbuch Soziologie der Künste. Wiesbaden Springer VS

**) Ich benutze ein von Ulrich Oevermann in Lehrveranstaltungen oft verwendetes Beispiel.

***) Oevermann, Ulrich (2013): Objektive Hermeneutik als Methodologie der Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt. In: Langer, Phil C.; Kühner, Angela; Schweder, Panja (ed.), Reflexive Wissensproduktion. Anregungen zu einem kritischen Methodenverständnis in qualitativer Forschung, Wiesbaden: Springer Fachmedien, 69-98; hier 96 f.

Dienstag, 13. Dezember 2022

Literatur von Ulrich Oevermann und Thomas Loer zur Theorie künstlerischen Handelns

Hier findet sich Literatur zur Theorie künstlerischen Handelns von Ulrich Oevermann und Thomas Loer, die anlässlich des Aufsatzes:

Loer, Thomas (2023): Objektive Hermeneutik als Methode der Kunstsoziologie. In: Bosch, Aida; Hieber, Lutz; Steuerwald, Christian (ed.): Handbuch Soziologie der Künste. Wiesbaden: Springer VS

zusammengestellt wurde:

Oevermann, Ulrich (1984a): Das biblische Vorbild für "Jakobs Kampf mit dem Engel" in St.-Sulpice: Inhaltsangabe und kurze Interpretation der Bedeutungsstruktur. Frankfurt/M. (unveröff. Manuskr.)

Oevermann, Ulrich (1984b): Interpretationsskizze zu Lord Byrons “Sardanapal”. (Tpsk., März 1984; 15 S.; siehe hier)

Oevermann, Ulrich (1986): Neue Stufen in der Dialektik der Aufklärung und die gesellschaftliche Aktualität der Romantik. – Probleme der Strukturanalyse gesellschaftlicher Rationalisierungsprozesse im Hinblick auf die Gegenwart von Identitätsformationen und die romantische Vergangenheit der Autonomisierung von Kunst und Erfahrungswissenschaft als selbständigen Formen der Kritik der Alltagserfahrung. o. O. [Frankfurt/M.] (Papier zur Einführung in das Forschungsseminar "Dialektik der Aufklärung und gesellschaftliche Rationalisierung. – Die Romantik in ihrer Rationalisierungsbedeutsamkeit innerhalb des Prozesses der Entfaltung der Moderne und als Vorform aktueller Deutungsmuster" (SS 1986 am FB 3 der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main); Tpskr.; 27 S.)

Oevermann, Ulrich (1990): Eugène Delacroix – biographische Konstellation und künstlerisches Handeln. In: Georg Büchner Jahrbuch 1986/87: 12-58

Oevermann, Ulrich (1992): Über die Sache der Kultur. In: Hansert, Andreas, Bürgerkultur und Kulturpolitik in Frankfurt am Main. Eine historisch-soziologische Rekonstruktion, Frankfurt/M.: Kramer, 5-26

Oevermann, Ulrich (1996a): Krise und Muße. Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung aus soziologischer Sicht. Frankfurt/M. (Vortrag am 19.6. in der Städel-Schule; Tpskr., Juni 1996, 46 S.; s. hier)

Oevermann, Ulrich (1996b): Vorwort. In: Loer 1996, v-xiv

Oevermann, Ulrich (1996c): Beckett's »Endspiel« als Prüfstein hermeneutischer Methodologie. Eine Interpretation mit den Verfahren der objektiven Hermeneutik. (Oder: Ein pbjektiv-hermeneutisches Exerzitium). In: König, Hans-Dieter (ed.), Neue Versuche, Becketts Endspiel zu verstehen. Sozialwissenschaftliches Interpretieren nach Adorno, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 93-249

Oevermann, Ulrich (1997a): Thesen zur Methodik der werkimmanenten Interpretation vom Standpunkt der objektiven Hermeneutik. Frankfurt/M. (Vorgelegt zur 4. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft objektive Hermeneutik e.V. "Immanenz oder Kontextabhängigkeit? Zur Methodik der Analyse von Werken und ästhetischen Ereignissen" am 26./27. April 1997 in Frankfurt am Main; Tpskr., April 1997, 32 S.; s. hier)

Oevermann, Ulrich (1997b): Literarische Verdichtung als soziologische Erkenntnisquelle: Szenische Realisierung der Strukturlogik professionalisierten ärztlichen Handelns in Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi. In: Wicke, Michael (ed.), Konfigurationen lebensweltlicher Strukturphänomene. Soziologische Varianten phänomenologisch-hermeneutischer Welterschließung, Opladen: Leske + Budrich, 276-335

Oevermann, Ulrich (1997c): Der Galerist – Versuch einer soziologischen Strukturanalyse. In: Frankfurter Kunstverein (ed.): Hommage an Horst Appel. Von Avramidis bis Zorio. Ausstellung im Frankfurter Kunstverein vom 5.12.97—31.1.98. Frankfurt/M., S. 78-85

Oevermann, Ulrich (1997d): Zu Baudelaire. Die Interpretation von „Les Chats“ (Nr. 66 der „Fleurs du Mal“). o. O. (Ms., April 1997, 42 S.; s. hier)

Oevermann, Ulrich (1997e): Erster Entwurf zur Interpretation von Baudelaire's "À une passante". – Vorgelegt zur 4. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Objektive Hermeneutik e.V. "Immanenz oder Kontextabhängigkeit? Zur Methodik der Analyse von Werken und ästhetischen Ereignissen" am 26./27. April 1997 in Frankfurt am Main. Frankfurt/M. (Ms., März 1997, 42, S.)

Oevermann, Ulrich (1999): Jürgen Wenzel: Bedingungslose Malerei in einer Kunstwelt der Selbstinszenierung. In: Ernst-Rietschel-Kulturring e. V. (ed.), Jürgen Wenzel; Malerei; Grafik; 1984-1999, Dresden, 5-9

Oevermann, Ulrich (2000): Die Farbe – Sinnliche Qualität, Unmittelbarkeit und Krisenkonstellation. – Ein Beitrag zur Konstitution von ästhetischer Erfahrung. In: Fehr, Michael (ed.), Die Farbe hat mich – Positionen zur nichtgegenständlichen Malerei, Essen: Klartext-Verlagsgesellschaft, 426-473

Oevermann, Ulrich (2001/2023): Bausteine einer Theorie künstlerischen Handelns aus soziologischer Sicht. In: Loer 2023a: •••-•••

Oevermann, Ulrich (2003a): Künstlerische Produktion aus soziologischer Perspektive. In: Rohde-Dachser, Christa (ed.), Unaussprechliches gestalten. Über Psychoanalyse und Kreativität, Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 128-157

Oevermann, Ulrich (2003b): Regelgeleitetes Handeln, Normativität und Lebenspraxis. Zur Konstitutionstheorie der Sozialwissenschaften. In: Link, Jürgen; Loer, Thomas; Neuendorff, Hartmut (ed.), 'Normalität' im Diskursnetz soziologischer Begriffe, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, 183-217

Oevermann, Ulrich (2003c): Struktureigenschaften künstlerischen Handelns – exemplifiziert an Baudelaires Sonett ›À une passante‹. In: Fischer, Joachim (ed.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne, Frankfurt/M., New York: Campus, 459-477

Oevermann, Ulrich (2005): Freuds Studie zum Moses des Michelangelo im Kontext biographischer Krisenkonstellationen. Untersuchungen zur Struktur ästhetischer Erfahrung und zur Methodik von Werkanalysen. In: sozialer sinn 2: 181-230

Loer, Thomas (1993): Ästhetik im Ausgang vom Werk. Eugène Delacroix: Fantasie arabe (1833). Exemplarische Überlegungen, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 36 (1991), November 1993: 154-170

Loer, Thomas (1994a): Werkgestalt und Erfahrungskonstitution. Exemplarische Analyse von Paul Cézannes ,Montagne Sainte-Victoire‘ (1904/06) unter Anwendung der Methode der objektiven Hermeneutik und Ausblicke auf eine soziologische Theorie der Ästhetik im Hinblick auf eine Theorie der Erfahrung. In: Garz und Kraimer 1994, 341-382

Loer, Thomas (1994b): Eugène Delacroix: Fantasia arabe, Frankfurt/M.: Städel (Kleine Werkmonographie 92)

Loer, Thomas (1995): Das Museum als Ort ästhetischer Erfahrung und sinnlicher Erkenntnis. Bericht über eine exemplarische Untersuchung zum Besucherverhalten im Kunstmuseum, Abschlussbericht, 4/1995 (s. hier)

Loer, Thomas (1996): Halbbildung und Autonomie. Über Struktureigenschaften der Rezeption bildender Kunst. Opladen: Westdeutscher Verlag (Mit einem Vorwort von Ulrich Oevermann)

Loer, Thomas (1997): Die Sache selbst und Vermittlung. Zeitgenössische Kunst, Irritation und Suggestivität. In: Stehr, Werner; Kirschenmann, Johannes (ed.), Materialien zur DOCUMENTA X. Ein Reader für Unterricht und Studium, Stuttgart: Cantz, 42-45

Loer, Thomas (1999): Kunstlose Soziologie. Über einige Neuerscheinungen zur Kunstsoziologie, in: Soziologische Revue, 3: 309-316

Loer, Thomas (2000): Mentor ins Offene. Max Imdahls Kunstvermittlung als Modell, in: Kunstvermittlung heute. Leverkusen 2000, 26-31

Loer, Thomas (2002): Anlässlich einer verbreiteten Form der Kunstvermittlung. Hermeneutische Marginalie zur Kulturindustrie, in: sozialer sinn, 3(2): 333-343

Loer, Thomas (2004): Rückstände im Kraftwerk? Ein Kunstwerk als Dokument – Schwierigkeiten beim Versuch, ein Werk der Bildenden Kunst als »Ego-Dokument« zu deuten, in: Sonja Häder (ed.): Der Bildungsgang des Subjekts. Bildungstheoretische Analysen, Weinheim, Basel: Beltz 2004 (Zeitschrift für Pädagogik, 48. Beiheft), 100-114

Loer, Thomas (2023a): Werk und Erfahrung. Wiesbaden: Springer VS (Mit einem Beitrag von Ulrich Oevermann) [Facetten der Kunst und ihrer Wahrnehmung, Bd. 1]

Loer, Thomas (2023b): Rezeption und Vermittlung. Wiesbaden: Springer VS [Facetten der Kunst und ihrer Wahrnehmung, Bd. 2]