Donnerstag, 15. November 2018

Lesarten (Terminologie)

s. jetzt den neuen Vorschlag vom Dezember 2022!

In der Objektiven Hermeneutik werden Lesarten u. a. danach unterschieden, in welchem Verhältnis sie zur zu analysierenden Ausdrucksgestalt stehen. Die erste (I) Unterscheidung ist diejenige danach, ob sie mit der Ausdrucksgestalt (a) kompatibel sind oder (b) nicht. Dabei können die Lesarten, die nicht mit der Ausdrucksgestalt kompatibel sind, – wenn sie im Zuge der Interpretation überhaupt auftauchen – relativ rasch ausgeschieden werden.

ad Ib
Beim zu analysierenden Protokoll handelt es sich um eine Videoaufzeichnung, die ein fahrendes Auto zeigt, in dem ein Mann zu erkennen ist, der die Hände am Steuer hat.*) Mit der Ausdrucksgestalt nicht kompatibel ist etwa die Lesart, es handele sich in Wirklichkeit um einen Mann in der Badewanne; diese kann einfach ausgeschlossen werden. Dass solche Lesarten überhaupt auftauchen, kann an einer ideosynkratischen Assoziation liegen, die als ideosynkratische und als bloße, in individuell besonderer Erfahrung fundierte Assoziation objektive Geltung nicht beanspruchen kann.

Die zweite (II) Unterscheidung ist diejenige danach, ob die Lesart von der Ausdrucksgestalt (a) "erzwungen" ist oder (b) nicht. Dabei sind diejenigen Lesarten, die mit der Ausdrucksgestalt kompatibel, aber nicht von ihr "erzwungen" sind, für die Analyse problematisch.

Ulrich Oevermann schreibt hierzu:
"Schwieriger ist demgegenüber der Umgang mit Lesarten, die zwar mit einer zu analysierenden Ausdrucksgestalt kompatibel sind, aber von dieser nicht im Sinne einer lückenlosen Ableitung von deren immanenten Markierungen erzwungen sind. Diese Lesarten, für die gilt, dass sie der 'Fall sein können, aber nicht sein müssen', sind im Sinne des schon genannten Wörtlichkeitsprinzips unbedingt zu vermeiden, denn sie 'vermüllen' die Analyse so wie degenerative Zusatzhypothesen eine Erklärung nur trüben. Diese Unterscheidung von zwar kompatiblen, aber nicht zwingenden Deutungen von solchen, die sich aus den Eigenschaften der Ausdrucksgestalt zwingend ableiten lassen, so dass für sie entweder gilt, dass sie nicht der Fall sein können, oder noch besser: der Fall sein müssen, ist außerordentlich wichtig und schwieriger zu realisieren als das Urteil über die Kompatibilität einer Lesart mit der gegebenen Ausdrucksgestalt. Die Beachtung dieser Unterscheidung ist für die Erklärungskraft der Analysen aber entscheidend und ermöglicht erst eine strikte Falsifikation."*)

ad Ia/IIb
Nehmen wir unser obiges Beispiel, so wäre die Lesart: "Im Auto sitzt ein Affe im Fußraum, der das Auto eigentlich steuert", mit der Ausdrucksgestalt kompatibel (Ia), aber nicht von ihr "erzwungen" (IIb).
Nun ist die Rede von "erzwungenen" bzw. "nicht erzwungenen" Lesarten m.E. irreführend, legt sie doch nahe, man könne gar nicht umhin, erstere zu bilden. Die von Oevermann verwendete Terminologie hängt zusammen mit der im zitierten Text auch zu findenden Rede von "zwingenden Deutungen". Dass eine Deutung zwingend ist, ist aber eine Feststellung, die nach dem Vorbringen dieser Deutung am Text geprüft wird, und sagt nichts darüber aus, woher diese Deutung stammt – ob die Ausdrucksgestalt sie etwa "erzwungen" hat.

Wenn wir stattdessen Lesarten danach unterscheiden, ob sie von der Ausdrucksgestalt indiziert sind oder nicht, können wir die irreführende Rede vermeiden.

ad Ia/IIa
Die vom Protokoll indizierte Lesart ist diejenige: "Der Mann steuert das Auto."

Eine Indikation ist von der Ausdrucksgestalt her zu denken: Die Ausdrucksgestalt zeigt etwas an, was dann "sich aus den Eigenschaften der Ausdrucksgestalt zwingend ableiten" lässt. Bloße Assoziationen sind hingegen der Ausdrucksgestalt unterlegt, und nicht von ihr angezeigt. – Das teilt der Terminus "indiziert" mit dem Terminus "erzwungen".
Aber: Was der Text anzeigt, muss vom Interpreten erst entdeckt, aufgedeckt werden. – Das unterscheidet den Terminus "indiziert" vom Terminus "erzwungen".

Insofern schlage ich vor, für die Unterscheidung von Lesarten neben der Rede davon, ob sie mit der Ausdrucksgestalt kompatibel sind, die Formulierung zu verwenden, ob sie von der Ausdrucksgestalt indiziert sind.


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*) Ich benutze ein von Ulrich Oevermann in Lehrveranstaltungen oft verwendetes Beispiel.

**) Oevermann, Ulrich (2013): Objektive Hermeneutik als Methodologie der Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt. In: Langer, Phil C.; Kühner, Angela; Schweder, Panja (ed.), Reflexive Wissensproduktion. Anregungen zu einem kritischen Methodenverständnis in qualitativer Forschung, Wiesbaden: Springer Fachmedien, 69-98; hier 96 f.

Donnerstag, 8. November 2018

Sequenzanalyse

Die in der interpretativen Sozialforschung mittlerweile verbreitete Bezeichnung ‚Sequenzanalyse‘ (s. Maiwald 2005)*) meint häufig schlicht eine sequentielle Betrachtung von Protokollsegmenten, ohne dass diese in eine entsprechend methodologisch begründete Analyse mündete.

Demgegenüber ist festzuhalten, dass die Sequenzanalyse nicht schlicht als Analyse von aufeinanderfolgenden Segmenten zu verstehen ist, sondern stets die – durch in der zu untersuchenden Praxis geltende Regeln konstituierten – Optionen zu entwerfen und die realisierte Option zu diesen in Relation zu setzen hat, um die Bedeutung dieser Auswahl bestimmen zu können. Erst wenn man die geltenden Regeln methodologisch würdigt, kann man bestimmen und begründen, welche Bedeutung ein Handlungssegment an einer bestimmten Sequenzstelle hat; dass etwa ein Sich-Kratzen oder ein Husten nicht lediglich „outbreaks of nature“ sind, sondern bedeutungshafte Momente der Handlungssequenz, kann man mit Hilfe der Relevanzregel nicht nur deskriptiv und quasi paraphrasierend aus den Reaktionen der Interaktionsbeteiligten ablesen (s. Knoblauch 2009: 187)**), sondern in ihrer objektiven Bedeutung bestimmen, womit auch das Darauf-nicht-Reagieren der Beteiligten eine bedeutungshafte Handlung darstellt.

Sequenzanalyse ist also konstitutionstheoretisch begründet und ohne diese Begründung nichts weiter als eine Verbrämung eines beliebigen (und beliebten) forschungspragmatischen Vorgehens. Methodologisch begründet ist die Sequenzanalyse in der Explikation des Gegenstandskonstitutivums der Sequentialität. Sequentialität menschlicher Praxis erschöpft sich nicht in schlichter temporaler Abfolge. Sequentialität ist vielmehr Ausfluss der Regelgeleitetheit von Handeln. In gebotener Kürze sei hier festgehalten, dass Regelgeleitetheit von Handeln einerseits bedeutet, dass dem Handelnden von den sein Handeln bestimmenden (nicht: determinierenden) Regeln Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden; dass andererseits dadurch, dass Handeln an Optionen eröffnenden Regeln orientiert ist, die Freiheit des Handelnden als Entscheidungsinstanz konstituiert wird. Handeln ist also Auswahl aus Optionen und genau dies erfasst der Begriff der Sequentialität.
Das Aufeinanderfolgen, das mit dem Terminus ‚Sequentialität‘ auf den Begriff gebracht wird, ist primordial ein Antworten auf Optionen eröffnende Handlungen bzw. Konstellationen und erst sekundär ein zeitliches.***)

*) Maiwald, Kai-Olaf (2005): Competence and Praxis: Sequential Analysis in German Sociology. In: FQS 3: Art. 31

**) Knoblauch, Hubert (2009): Social constructivism and the three levels of video analysis. In: Kissmann, Ulrike Tikvah (ed.): Video Interaction Analysis. Methods and Methodology.
Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien: Peter Lang: 181-198

***) s: Loer, Thomas (2010): Videoaufzeichungen in der interpretativen Sozialforschung. Anmerkungen zu Methodologie und Methode. In: sozialer sinn 2 (11): 319-352; 229 f.

ad "objektive Daten"

Da in der Objektiven Hermeneutik nach wie vor der – missverständliche – Terminus "objektive Daten" verwendet wird, möchte ich folgende terminologische Klärung zur Diskussion stellen:

»Es handelt sich hier […] um eine Bestimmung des Datentypus von seiner Erhebungsform her: der möglichen Erhebung aus Quellen, die nicht nur vom Fall sondern überhaupt von subjektiver Selektivität unabhängig sind: „Dazu gehören das Geburtsdatum, Geburtsort, Geschlecht, Wohnort, Ausbildung, Beruf, Heiratsdaten, Kinderzahl, Einwohnerzahlen, Wohnraumaufteilung und dergleichen.“ (Allert 1993: 332)*) Dabei müssen die Daten nicht aktuell faktisch so erhoben worden sein […], sie müssen aber grundsätzlich anhand solcher unabhängiger Quellen überprüfbar sein. Die begriffliche Bestimmung der als objektive bezeichneten Daten, wie sie von Oevermann und nachfolgend hier von Allert vorgenommen wurde, ist konsistent und ausreichend. Allerdings stellt sich die Frage, ob der Ausdruck ‚objektive Daten‘ terminologisch hinreichend prägnant ist. So legt der Terminus es ja durchaus nahe, den ‚objektiven Daten‘ ‚subjektive Daten‘ zur Seite stellen zu wollen.[Dazu hat sich etwa Boris Zizek verführen lassen (2012).**)] Die Rede von subjektiven Daten ist aber in sich unsinnig, da Daten die Grundlage methodischer Analysen bieten und methodologisch die Objektivität der Daten: die „Objektivität des Protokolls“ (Oevermann 2004)***), unabdingbar ist. Was auch immer also ‚subjektive Daten‘ sein mögen, für eine methodische Rekonstruktion sind sie unerheblich. Deshalb schlagen wir vor, diejenigen Daten, die unabhängig von subjektiver Selektivität erhoben und mittels unabhängiger Testate überprüft werden können, mit dem Terminus ‚testierbare Daten‘ auf den Begriff zu bringen. Damit ist auch klar, was Allert fortfahrend formuliert: „Bei der Rekonstruktionsarbeit interessieren die Daten nun nicht an sich, vielmehr aufgrund der Annahme, daß die hierin objektivierten Lebensumstände auf lebenspraktische Entscheidungen verweisen, die sich zu einer Typik des Handelns sukzessive verdichten. Das Verhältnis von objektiver Möglichkeit und faktisch gewählter Option unterliegt selbst wiederum einem kumulativen Prozeß. In dieser Kumulation liegt die objektive Einzigartigkeit eines biographischen Verlaufs.“ (Allert 1993: 332)« (Loer 2015: 303)****)

*) Allert, Tilman (1993): Familie und Milieu. Die Wechselwirkung von Binnenstruktur und Außenbeziehung am Beispiel der Familie Albert Einsteins. In: Jung, Thomas; Müller-Doohm, Stefan (ed.), „Wirklichkeit“ im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 329-357; hier: 332
**) Zizek, Boris (2012): Vollzug und Begründung, objektive und subjektive Daten – Eine Parallele?. In: sozialer sinn 1 (13): 39-56
***) Oevermann, Ulrich (2004): Objektivität des Protokolls und Subjektivität als Forschungsgegenstand. In: ZBBS 2: 311-336
****) Loer, Thomas (2015): Diskurspraxis – Konstitution und Gestaltung. Testierbare Daten – Methodologie der Rekonstruktion. Objektive Hermeneutik in der Diskussion. In: sozialer sinn 2 (16): 291-317