Donnerstag, 4. Juni 2015
ad: Garz, Detlef; Raven, Uwe (2015): Theorie der Lebenspraxis. Einführung in das Werk Ulrich Oevermanns. Wiesbaden: Springer VS | vorläufig
Nachdem das o. g. Buch nun erschienen ist (und auch noch in der Arbeitsgemeinschaft Objektive Hermeneutik beworben wird), halte ich es für erforderlich, direkt -- wenngleich auch vorläufig -- auf einige Aspekte hinzuweisen: Bei der Lektüre der vorab frei verfügbaren Seiten war insbesondere festzustellen, dass der Begriff der Krise dort nicht klar wird, da nicht deutlich zwischen dem (analytischen) Gegensatz Krise vs. Routine und dem (alltagspraktischen) Gegensatz "Kleinigkeit" vs. dramatischer Entscheidung unterschieden wird; damit hängt des weiteren eine Verzerrung im Begriff des Entscheidungszwangs zusammen, was auch aus Oevermanns terminologischer Festlegung resultiert (s. dazu: Loer, Thomas (2007): Die Region. Eine Begriffsbestimmung am Fall des Ruhrgebiets. Stuttgart: Lucius; daraus den "Exkurs zu Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung", S. 32-35); keineswegs aber ist der konstitutive "Entscheidungszwang" etwas, das zur Entscheidungskrise hinzutritt, wie es die Abb. 2.1, S. 29 in Garz/Raven 2015 suggeriert. Auch beim Begriff (unerfindlich, warum lediglich von "Konstrukt" die Rede ist) der Lebenspraxis gibt es Unklarheiten, da es einmal heißt: "Jeder Mensch und jede menschliche Gemeinschaft hat eine Lebenspraxis." (S. 26) -- was suggeriert, es gäbe ein Agens 'hinter' der Lebenspraxis; und einmal: "dass Lebenspraxis jene verschieden aggregierte humane Einheit ist" (ebd.) -- was Oevermanns Auffassung entspricht, wie aus dem dort anschließenden Zitat hervorgeht. Zudem wird der Begriff der objektiven Sinnstruktur verunklart, da er anstelle von "Fallstruktur" (S. 31) gesetzt wird. -- Vgl. dazu deutlich Oevermann: „Dieser Begriff der Fallstruktur ist scharf von dem der latenten Sinnstruktur zu scheiden.“ (Oevermann, Ulrich (2013): Objektive Hermeneutik als Methodologie der Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt. In: Langer, Phil C.; Kühner, Angela; Schweder, Panja (ed.), Reflexive Wissensproduktion. Anregungen zu einem kritischen Methodenverständnis in qualitativer Forschung, Wiesbaden: Springer Fachmedien, 69-98; hier: 75) -- Eine Stichprobe im erschienen Werk, lässt darüber hinaus vermuten, dass die Autoren Oevermanns Theorie systematisch mindestens missverständlich darstellen – etwa da wo sie ein Beispiel Oevermanns heranziehen: "Ein anderes eher profanes Beispiel für Krise als das zu Prädizierende ergibt sich aus folgender alltäglichen Situation: Es ist Nacht und ‚S‘ schläft tief und fest. Ein plötzlich auftretendes lautes Geräusch, ein Knall, schreckt ‚S‘ auf. An Schlaf ist nicht mehr zu denken, weil die Ursache des Geräuschs, das ‚P‘, nicht unmittelbar bestimmt werden kann." -- Bei Oevermann zumindest ist 'P‘ das Prädikat. Das heißt, unbestimmt ist nicht das 'P‘, sondern ein 'X‘, das erst durch ein 'P‘ bestimmt werden muss. -- All diese Beobachtung lassen es dringlich erforderlich erscheinen, das Buch einer sorgfältigen Rezension zu unterziehen, wird es doch vermutlich auf länger Sicht als "die" "Einführung in das Werk Ulrich Oevermanns" wahrgenommen werden.