nun erschienen:
Loer, Thomas (2018):
Das Gedicht an der Wand. Analyse des Gedichts avenidas von Eugen Gomringer sowie seiner öffentlichen Präsentation. In: sozialer sinn 19/1: 191-226
Zusammenfassung
Um
ein Gedicht von Eugen Gomringer, das an einer Außenwand der
Alice-Salomon-Hochschule in Berlin angebracht worden war, gab es eine
umfangreiche öffentliche Debatte. Dabei wurde lediglich der Inhalt des
Gedichts berücksichtigt: als diskriminierend, da in ihm Frauen als
Gegenüber der Bewunderung erwähnt werden. Und die Verteidiger der
Anbringung an der Wand sahen lediglich darin, dass das Gedicht so, d. h.
aus Gründen der political correctness abgelehnt wurde, abstrakt einen unzulässigen Eingriff in die Freiheit der Kunst im allgemeinen. Das Gedicht qua Gedicht
spielte keine Rolle. Ob und ggf. warum das Gedicht zu Recht als „eines
der bedeutenden Gedichte der modernen Lyrik“ gilt und was eigentlich die
pragmatische Rahmung der Präsentation für ein Gedicht bedeutet, blieb
ungefragt. Zur Beantwortung dieser nicht unerheblichen Fragen wird in
dem vorliegenden Beitrag zunächst das Gedicht selbst analysiert und dann
die pragmatische (Um-) Rahmung untersucht. Beide Analysen verfahren
nach der Methode die Objektive Hermeneutik. Dabei zeigt sich, dass es
sich bei dem Gedicht um ein autonomes Kunstwerk handelt, das dem Leser
Welt eröffnet. In der Präsentation aber wie in der Debatte darum wird es
auf eine seinen Werkcharakter missachtende und es so ruinierende Weise
instrumentalisiert. Dazu trägt auch bei, dass das im Gedicht thematische
Geschlechterverhältnis über den Gender-Leisten der
Geschlechterdiskriminierung geschlagen wird, wodurch die Dimensionen der
Geschlechterspannung, die in dem Gedicht nicht nur zum Ausdruck
gebracht, sondern zugleich in einer sinnlichen Gestalt als konkrete
Reziprozität erfahrbar gemacht werden, auf eine: die der Ungleichheit,
reduziert werden. Diese Reduktion wird durch das Gedicht, aber durch
seine plakative Präsentation nahegelegt; diese macht, was die Debatte
dann aufnimmt, aus dem Gedicht – so oder so – ein Menetekel und setzt es
herab zum geistlosen Götzen der leerlaufenden Aufmerksamkeit.