Dienstag, 2. April 2019

Die zwei verschiedenen Rollen testierbarer Daten in der Analyse

Kürzlich haben wir hier den terminologischen Vorschlag gemacht, jene Daten, die in der Objektiven Hermeneutik sonst ›objektive Daten‹ genannt werden, ›testierbare Daten‹ zu nennen. Nun hat sich in der weiteren Beschäftigung mit diesem Datentypus anlässlich einer auf Einladung von Andreas Wernet am 6. März 2019 in Hannover durchgeführten Arbeitssitzung unter dem Titel »Zum Konzept der Ausdrucksgestalt in methodologischer und methodischer Hinsicht«*) eine Unklarheit im Umgang mit Daten dieses Typus herausgestellt, die ich hier benennen und beseitigen möchte.

Nach wie vor kann Tilman Allerts von uns zitierte Bestimmung der testierbaren – in seinen Worten noch objektiven – Daten als die differenzierteste gelten:

»Dazu gehören das Geburtsdatum, Geburtsort, Geschlecht, Wohnort, Ausbildung, Beruf, Heiratsdaten, Kinderzahl, Einwohnerzahlen, Wohnraumaufteilung und dergleichen. Bei der Rekonstruktionsarbeit interessieren die Daten nun nicht an sich, vielmehr aufgrund der Annahme, daß die hierin objektivierten Lebensumstände auf lebenspraktische Entscheidungen verweisen, die sich zu einer Typik des Handelns sukzessive verdichten. Das Verhältnis von objektiver Möglichkeit und faktisch gewählter Option unterliegt selbst wiederum einem kumulativen Prozeß. In dieser Kumulation liegt die objektive Einzigartigkeit eines biographischen Verlaufs.“ (Allert 1993: 332)

Nun muss man aber berücksichtigen, dass die testierbaren Daten in Abhängigkeit von der Fallbestimmung eine unterschiedliche Rolle spielen können. Wenn etwa Ulrich Oevermann die ›lebensgeschichtlichen Ausgangsbedingungen des Künstlers Delacroix‹ auslegt (1990: 19-32), so werden die testierbaren Daten, wie die Oevermannsche Zwischenüberschrift ja auch besagt, als Indikatoren für »die Hemmungen und die Chancen« (Mannheim 1928/1964: 542) – mit Fernand Braudel könnte man auch sagen: für die »obstacles« oder »soutiens«**) –, die die entsprechende Ausgangslage für die als Fall von künstlerischem Handeln (Oevermanns Gegenstand) zu analysierende Lebenspraxis Delacroix' spielen. Wäre nun allerdings die Familie Delacroix diejenige Lebenspraxis, die ich als Fall (etwa als Fall einer Familie der Bourgeoisie des revolutionären und nachrevolutionären Frankreichs) untersuchte, so wären testierbaren Daten – wie etwa die Zeugung und Geburt eines ›Nachzüglers‹ (Oevermann 1990: 21) – als Ausdrucksgestalten dieser Lebenspraxis zu analysieren.***)

Um die unterschiedliche Rolle der testierbaren Daten noch an einem anderen Beispiel zu verdeutlichen, sei die von Bruno Hildenbrand mehrfach (1999, 2005) ausführlich – und nun nochmals auch für Fortgeschrittene (2018) – dargelegte Genogrammanalyse herangezogen. Das Datum der Verehelichung von A und B und das Datum der Geburt von C als erstem Kind von A und B kann einerseits – dann nämlich wenn C die Lebenspraxis ist, die ich als Fall meines Gegenstands analysiere (in der Sprache Hildenbrands: wenn C als Ego gilt) – als Indikator für die Ausgangslage der Lebenspraxis die ich als Fall von X (meinem Gegenstand) analysiere, gelten, anhand derer ich die »Hemmungen und Chancen« bestimme, die dieser Lebenspraxis in die Wiege gelegt wurden und damit eine Konstellation bilden, die in die Bildungsgeschichte der Lebenspraxis eingeht und an der sie sich abarbeitet – man kann dies in methodologischer Hinsicht als biographisch verankerte Eröffnungsparameter für die untersuchte Lebenspraxis bezeichnen. Andererseits können die genannten testierbaren Daten als Ausdrucksgestalt der untersuchten ehelichen und familialen Lebenspraxis von A und B analysiert werden, da »die hierin objektivierten Lebensumstände auf lebenspraktische Entscheidungen verweisen, die sich zu einer Typik des [ehelichen und familialen] Handelns [von A und B] sukzessive verdichten« (Allert 1993: 332).

Wenn man diese beiden Rollen, die testierbare Daten in der Anlayse spielen können, unterscheidet und entsprechend berücksichtig, dann löst sich die Schwierigkeit, testierbare Daten mit den Verfahren der Objektiven Hermeneutik zu analysieren, die Andreas Wernet und Thomas Wenzl (2015) dazu bewogen haben, hier von »Fallkonstruktion statt Fallrekonstruktion« zu sprechen, auf. Insbesondere das Verfahren der Sequenzanalyse, die ja darin besteht, die Handlungsoptionen der Lebenspraxis an einer Sequenzstelle gemäß geltender Regeln zu entwerfen, um auf dieser Folie zu bestimmen, was die Wahl der gewählten Option über die Fallstruktur besagt, und eben so sequenziell die Fallstrukturgesetzlichkeit zu rekonstruieren, ist für die Analyse testierbarer Daten als Ausdrucksgestalten der Lebenspraxis in dem o. g. Sinne opportun.****)



ANMERKUNGEN
*) Sie fand im Rahmen der »Fallwerkstatt Rekonstruktive Bildungsforschung« statt, Teilnehmer waren neben Andreas Wernet und mir u. a. auch Thomas Wenzl und Katharina Kunze.

**) »Certaines structures, à vivre longtemps, deviennent des éléments stables d’une infinité de générations: elles encombrent l’histoire, en gênent, donc en commendent l’écoulement. […] toutes sont à la fois soutiens et obstacles.« (Braudel, 1958: 731)

***) Um die ›lebensgeschichtlichen Ausgangsbedingungen des Künstlers‹ zu bestimmen und um analysieren zu können, was diese für die Bildungsgeschichte der untersuchten Lebenspraxis bedeuten, wechselt Oevermann in seinem Aufsatz zwischenzeitlich in die genannte Perspektive.

****) Zur Kritik an Wenzl und Wernet s. Loer 2015, insbes. 303-313, wo auch darauf verwiesen wird, dass geltende Regeln u. U. – anders als es meist für sprachliche Regeln gilt – erst rekonstruiert bzw. der Literatur entnommen werden müssen; allerdings habe ich dort eben die Unterscheidung zwischen testierbaren Daten als Indikatoren für »die Hemmungen und die Chancen«, denen eine Lebenspraxis ausgesetzt ist, und testierbaren Daten als Ausdrucksgestalten der untersuchten Lebenspraxis noch nicht gemacht.

LITERATUR

Allert, Tilman (1993): Familie und Milieu. Die Wechselwirkung von Binnenstruktur und Außenbeziehung am Beispiel der Familie Albert Einsteins. In: Jung, Thomas; Müller-Doohm, Stefan (ed.), „Wirklichkeit“ im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 329-357

Braudel, Fernand (1958): La longue durée. In: Annales Économies Sociétés Civilisations: 725-753

Hildenbrand, Bruno (1999): Fallrekonstruktive Familienforschung. Anleitungen für die Praxis. Opladen: Leske + Budrich
Hildenbrand, Bruno (2005): Einführung in die Genogrammarbeit. Heidelberg: Carl Auer-Systeme Verlag
Hildenbrand, Bruno (2018): Genogrammarbeit für Fortgeschrittene. Vom Vorgegebenen zum Aufgegebenen. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH

Loer, Thomas (2015): Diskurspraxis – Konstitution und Gestaltung. Testierbare Daten – Methodologie der Rekonstruktion. Objektive Hermeneutik in der Diskussion. In: sozialer sinn 2: 291-317

Mannheim, Karl (1928/1964): Das Problem der Generationen. In: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Berlin, Neuwied: Luchterhand, 509-556

Oevermann, Ulrich (1990): Eugène Delacroix – biographische Konstellation und künstlerisches Handeln. In: Georg Büchner Jahrbuch 1986/87: 12-58

Wenzl, Thomas; Wernet, Andreas (2015): Fallkonstruktion statt Fallrekonstruktion. Zum methodologischen Stellenwert der Analyse objektiver Daten. In: sozialer sinn 1: 85-101