Die in der interpretativen Sozialforschung mittlerweile verbreitete Bezeichnung ‚Sequenzanalyse‘ (s. Maiwald 2005)*) meint häufig schlicht eine sequentielle Betrachtung von Protokollsegmenten, ohne dass diese in eine entsprechend methodologisch begründete Analyse mündete.
Demgegenüber ist festzuhalten, dass die Sequenzanalyse nicht schlicht als Analyse von aufeinanderfolgenden Segmenten zu verstehen ist, sondern stets die – durch in der zu untersuchenden Praxis geltende Regeln konstituierten – Optionen zu entwerfen und die realisierte Option zu diesen in Relation zu setzen hat, um die Bedeutung dieser Auswahl bestimmen zu können. Erst wenn man die geltenden Regeln methodologisch würdigt, kann man bestimmen und begründen, welche Bedeutung ein Handlungssegment an einer bestimmten Sequenzstelle hat; dass etwa ein Sich-Kratzen oder ein Husten nicht lediglich „outbreaks of nature“ sind, sondern bedeutungshafte Momente der Handlungssequenz, kann man mit Hilfe der Relevanzregel nicht nur deskriptiv und quasi paraphrasierend aus den Reaktionen der Interaktionsbeteiligten ablesen (s. Knoblauch 2009: 187)**), sondern in ihrer objektiven Bedeutung bestimmen, womit auch das Darauf-nicht-Reagieren der Beteiligten eine bedeutungshafte Handlung darstellt.
Sequenzanalyse ist also konstitutionstheoretisch begründet und ohne diese Begründung nichts weiter als eine Verbrämung eines beliebigen (und beliebten) forschungspragmatischen Vorgehens. Methodologisch begründet ist die Sequenzanalyse in der Explikation des Gegenstandskonstitutivums der Sequentialität. Sequentialität menschlicher Praxis erschöpft sich nicht in schlichter temporaler Abfolge. Sequentialität ist vielmehr Ausfluss der Regelgeleitetheit von Handeln. In gebotener Kürze sei hier festgehalten, dass Regelgeleitetheit von Handeln einerseits bedeutet, dass dem Handelnden von den sein Handeln bestimmenden (nicht: determinierenden) Regeln Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden; dass andererseits dadurch, dass Handeln an Optionen eröffnenden Regeln orientiert ist, die Freiheit des Handelnden als Entscheidungsinstanz konstituiert wird. Handeln ist also Auswahl aus Optionen und genau dies erfasst der Begriff der Sequentialität.
Das Aufeinanderfolgen, das mit dem Terminus ‚Sequentialität‘ auf den Begriff gebracht wird, ist primordial ein Antworten auf Optionen eröffnende Handlungen bzw. Konstellationen und erst sekundär ein zeitliches.***)
*) Maiwald, Kai-Olaf (2005): Competence and Praxis: Sequential Analysis in German Sociology. In: FQS 3: Art. 31
**) Knoblauch, Hubert (2009): Social constructivism and the three levels of video analysis. In: Kissmann, Ulrike Tikvah (ed.): Video Interaction Analysis. Methods and Methodology.
Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien: Peter Lang: 181-198
***) s: Loer, Thomas (2010): Videoaufzeichungen in der interpretativen Sozialforschung. Anmerkungen zu Methodologie und Methode. In: sozialer sinn 2 (11): 319-352; 229 f.